CMW 2016: „Leise Töne sind hier nicht gefragt"

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Warum Pathos und Professionalität zwei Seiten einer Medaille sind und was die deutsche Agenturwelt davon lernen kann – Dr. Simon Geisler, Chief Marketing Officer beim Ulmer Ebner Verlag, über seine Stimmung und Learnings auf der CMW 2016

© Dr. Simon Geisler

Cleveland, Mittwoch, 7. September 2016. Draußen ist es morgens um acht Uhr bereits schwül warm. Die Stadt erholt sich  vom National Labour Day am Montag. Die National Airshow war mit Weltkriegsbombern und Düsenjägern in der Stadt. Mit ihnen kamen Hillary Clinton und „The Donald“ Trump. Danach versank die Stadt wieder im Mittelmaß des gebeutelten „rust belt“ an den großen Seen – sollte man meinen. Doch dem ist nicht so. Stattdessen startet am 7. September die Content Marketing World des Clevelander Content Marketing Institutes. Dessen Gründer, Joe Pulizzi, „Godfather of Content Marketing“, hält Hof.

Leise Töne sind nicht gefragt 

Im Clevelander Convention Center ist es kühl. In den Sessionräumen und im Convention-Saal ist es US-typisch fast frostig. Ab halb acht Uhr lässt der hämmernde Disco-Beat keinen Zweifel mehr zu: Leise Töne sind hier nicht gefragt. Der Saal fast über 4.000 Menschen. Ungefähr 3.500 sind aus aller Welt gekommen. Um viertel nach acht verdunkelt sich der Saal. Die Musik schweigt einen Moment. Dann die wuchtigen Fanfaren des Starwars-Themas. Auf großen Videowänden schwebt die ikonische weiße Schrift in einen unendlichen Kosmos. Eine Ode an die Jedis. 600 waren es vor fünf Jahren. Heute sind es 3.500. Man kämpft. Mit Content. Gegen den Todesstern, Facebook – just kiddin‘, das war natürlich nur ein Scherz unter Eingeweihten.

Starwars ist das Thema. Die Bühne ist das blinkende Cockpit eines Raumschiffes, das durch ein unendliches Universum rast. Dann kündigt eine donnernde Stimme aus dem Off den Urheber dieser ganzen Inszenierung an: Joe Pulizzi, Gründer und bis vor kurzem Inhaber der Content Marketing World, betritt die Bühne. Die Jedis im Publikum jubeln. Pulizzi tritt, wie immer, im orangenen Dreiteiler samt orangenen Schuhen auf. Orange ist hier alles. Orange ist, seit Pulizzi vor Jahren als Speaker im orangenen T-Shirt auftrat, die CI des Content Marketing Institutes. Orange wird hier sehr ernst genommen.


© Dr. Simon Geisler

Die Inszenierung findet ihren vorläufigen Höhepunkt, als Pulizzi sich einen schwarzen Ledermantel umlegen lässt, eine dunkle Sonnenbrille aufsetzt und ganz ernsthaft Lawrence Fishburns Morpheus-Passage aus „The Matrix“ rezitiert. Content Marketing sei keine Nebenbeibeschäftigung. Man sei entweder „all in“ oder „out“. Das gilt dem Publikum. Und schließlich: Wer dem Godfather in seinem Anspruch folge, werde erleben, „how deep the rabbit hole goes“. Dann geht die Konferenz auch schon in die thematischen Breakout-Sessions über.

Hier geht es oft ans Eingemachte

Es ist diese Mischung aus schwerem und sehr ernstgemeintem Pathos und gleichzeitig schmerzhaft pragmatischem Pragmatismus, die die Content Marketing World so einzigartig und gleichzeitig teilweise schwer verdaulich macht. Denn jeder hier vollzieht nach der predigtgleichen Ansprache des „Godfathers“ scheinbar mühelos den Wechsel zu thematisch teilweise sehr spitzen und anspruchsvollen Breakout-Sessions. Hier wird größtenteils nicht mehr gepredigt. Hier geht es um nachvollziehbare und reproduzierbare Strategien und Taktiken, die am Ende immer darauf hinaus laufen, wie mit demselben Content immer noch mehr Aufmerksamkeit, noch mehr Traffic, noch mehr Verkauf, noch mehr Umsatz generiert werden kann. Hier ist der Anspruch an jeden Speaker, seinem Publikum etwas zu liefern, was es mit nach Hause nehmen und dort umsetzen kann. Allgemeine Phrasen oder gar Werbung sind hier nicht vorgesehen. Hier geht es oft ans Eingemachte.

Auf zwei große Themen fokussiert sich die Content Marketing World. Und die haben es in sich, auch für deutsche Agenturen. Es geht einmal um structured oder auch intelligent Content. Und dann um dessen Distribution mit maximaler Wirkung.

Structured oder Intelligent Content

Schon auf der Intelligent Content Conference in Las Vegas (Veranstalter ebenfalls das CMI) kreiste alles um die Kernspaltung von Content und die daraus freizusetzenden Ideen. „Content“ wird hier längst nicht mehr als monolithische Einheit, gar als „Artikel“ gedacht, sondern als Konglomerat einzelner, atomisierter Content-Teile. Die Pioniere dieser Disziplin, die Kanadier Ann Rockley und Charles Cooper, illustrieren dies in ihren Sessions anhand von Legobausätzen. Diese bestehen aus einzelnen Bausteinen, die sich, je nach Bauplan, immer wieder zu anderen Formen kombinieren lassen. Bestimmte Bausteine werden immer wieder benötigt und sind deshalb obligatorisch. Damit Multichannel-Strategie funktionieren, müssen zum Beispiel Tweets oder Facebook-Teaser bereits bei der Planung berücksichtigt und dann entsprechend als Bausteine bzw. Content-Teileinheiten angelegt werden.


© Dr. Simon Geisler

Content-Bausteine anstatt Geschichten oder Artikel

Für die Arbeit des Autors oder Journalisten hat das erhebliche Auswirkungen. Er schreibt zunächst einmal keine „Geschichten“ oder „Artikel“ mehr, sondern produziert vor dem Hintergrund eines standardisierten Planungsrasters einzelne Content-Bausteine, die dann später nach weitergehenden Konstruktionsplänen für die jeweiligen Zwecke und Kanäle immer wieder neu kombiniert und zusammengesetzt werden. Das wirkt erst einmal jeglicher Autorenkreativität diametral entgegengesetzt. Tatsächlich geht es aber darum, den ursprünglichen kreativen Prozess auf diese Weise in eine Struktur zu gießen, die diesen Content effizient handhabbar und skalierbar macht. So lassen sich beispielsweise Übersetzungen auf diese Weise sehr viel leichter und kostengünstiger über verschiedene digitale Plattformen streuen und zentral verwalten. Fehler werden vermieden und die Handhabung erleichtert. Die Freiheit und Kreativität der Autoren werden somit auf den Inhalt selbst anstatt auf die Form gelenkt. Sie soll sich dort entfalten, wo sie ihre maximale Wirkung entfalten kann: Beim User und Konsumenten. Die Form hingegen muss von Maschinen (Computern) händel- und lesbar sein.

Das Versprechen hinter diesem Paradigmenwechsel in der redaktionellen Arbeit besteht in der Entfaltung der eigentlichen Energie des produzierten Contents. Wo der monolithische Artikel im Printformat lediglich einmal verwendet und dann stillschweigend auf null abgeschrieben wurde, beginnt die Wirkung von Structured bzw. Intelligent Content erst dann ihre volle Kraft zu entfalten, wenn der Printtitel längst erschienen und abgehandelt ist. Die einzelnen Content-Bausteine werden immer neu kombiniert und immer wieder neu über einzelne Kanäle ausgespielt und genutzt. Theoretisch gibt es unendlich viele Kombinations- und Wirkungsmöglichkeiten. Auf diese Weise kann Content skalieren und seinen ursprünglichen Kosten einen stetig wachsenden, langanhaltenden Einnahmestrom gegenüberstellen.

Natürlich geht dies nur mit Planung und sauberer digitaler Content-Verwaltung. Der redaktionelle Alltag wird gemäß der Bausteinlogik in ein immer anspruchsvolleres und kleinteiligeres Raster gesteckt. Denn nur dieses ermöglicht die strategisch sinnvolle Produktion der Bausteine. Diese wiederum müssen von vornherein entlang der Vorlieben und Bedürfnisse der jeweiligen Zielgruppe geplant werden, da die spätere Wirkung entscheidend ist.

Ohne Distributionsstrategie ist der beste Content wertlos
Das zweite Thema setzt an genau dieser Stelle an. Content wird nur noch in präzise strukturierten Bausteinen und Teileinheiten gedacht, nicht mehr als Gesamtkunstwerk. Doch die Macht dieser atomisierten Einheiten lässt sich nur mit einer bereits von Anfang an mitgedachten Distributionsstrategie entfesseln. Hier kommen mehrere methodische Aspekte ins Spiel, die alle in sehr hochwertigen Breakout-Sessions dargestellt wurden. Wie man Content-Bausteine und Kombinationen von vornherein auf möglichst präzise definierte Teilzielgruppen ausrichtet und dafür optimiert, hob Adelle Rivella hervor. Die dafür eingesetzten Buyer Personas werden damit zur zentralen Richtschnur, die es überhaupt erst ermöglicht, Content zu produzieren, der wirklich präzise auf klar umrissene Teilzielgruppen ausgerichtet ist. Auf die Produktion der einzelnen Bausteine hat diese u.U. erheblichen Einfluss, da diese je nach zugrundeliegender Buyer Persona vollkommen unterschiedlich aussehen können.

Keynote-Speaker Andy Crestodina appellierte einmal mehr an die Zuhörer, die scheinbar offensichtlichen Maßgaben zeitgemäßer Suchmaschinenoptimierung zu beherzigen. Auch hier geht es v.a. darum, der Kreativität der Autoren zunächst einmal Fesseln anzulegen, um dann im nächsten Schritt erst einmal das gesamte Konkurrenzumfeld eines Themenfeldes aus SEO-Sicht zu beleuchten, auf Basis eindeutiger Daten erfolgversprechende Lücken aufzuklären und diese dann gezielt zu besetzen, um die hart umkämpften und offensichtlichen Themen und Keyword-kombinationen zu vermeiden. Autorenkreativität kommt dort zum Tragen, wo die Datenanalyse das Feld bereits bestellt und die Leitplanken gesetzt hat. Dort füllt sie gezielt die Lücken, die den Content mit der höchsten Wahrscheinlichkeit in der Suchmaschine erfolgreich machen.

© Dr. Simon Geisler

Dass all dies richtig ist, aber längst noch deutlich weiter und abstrakter gedacht werden kann und muss, hob Star-SEO Rand Fishkin hervor. SEO erstreckt sich längst nicht mehr nur auf Keywords, sondern Google erschließt mittlerweile Themen semantisch und weiß aus den Tiefen seines Datenschatzes um die weniger offensichtlichen, untergründigen, dafür aber umso wirksameren Verbindungen einzelner Begriffe, die sich so zu ganzen Themenwelten aufbauen. Die Relevanz der Social Media-Kanäle liegt dabei nicht mehr nur auf der unmittelbaren Distribution, sondern sie wirkt längst auf die Suchmaschine zurück, da diese mittlerweile die Social-Präsenz von Websites und Texten in die Bewertung einbezieht. Hier geht es schon längst um ein hochgradig mathematisiertes Verständnis von Zielgruppen als denkende und fühlende Wesen mit Vorlieben und Interessen – nicht mehr um harmloses Onsite-SEO.

Fazit hier: Auch der beste Content ist wirkungs- und damit wertlos, wenn nicht mindestens so viel Wert auf die Produktion des Contents wie auf dessen strategisch ausgefeilte Distribution gelegt wird. Kreativität tritt dabei zunächst in den Hintergrund, denn sowohl Produktion wie Distribution von Content geschehen primär datenbasiert, was die Spielräume für geniale Geistesblitze immer weiter einschränkt. Kreativität kommt stattdessen bei der klugen Nutzung der Freiheiten, die diese starren, datengetriebenen Raster noch ermöglichen, zur Geltung. Es erfordert erhebliche Kreativität, die von den Daten und Analysen vorgegebenen Pfade so zu gestalten, dass sie nicht nur maschinenlesbar, sondern tatsächlich auch von Menschen mit Freude konsumierbar sind. Die Kreativität verschwindet nicht. Sie wird nur anderswo ins Werk gesetzt.

Pathos und Pragmatismus

Diese Mischung aus im Zweifel gnadenlosem, daten- und analysegetriebenem Pragmatismus, der keinen Zweifel daran lässt, dass er der Maschine im Zweifel mehr vertraut als journalistischen oder gar künstlerischen Instinkten, und dem erwähnten Pathos der Eingangs-Keynotes ist das eigentümliche und fesselnde Spannungsfeld, das die CMW aufbaut und in das sie ihre Besucher hineinzieht.

Wer sich darauf einlässt, wird mit einer Vision davon belohnt, wie Agenturarbeit auch in Deutschland zukünftig aussehen oder in welche Richtung sie sich doch zumindest deutlich entwickeln wird. Für den Kunden hat dies überwiegend Vorteile. Denn die Leistung von Agenturen wird in dem Maße transparenter und ehrlicher, in dem sie zunächst einmal auf Datenanalysen beruht, aus denen sie dann präzise Raster ableitet, die nur noch kreativ gefüllt werden müssen, selbst aber kaum noch Kreativität voraussetzen. Für den Marketingmann vom  Schlage eines Don Draper, der nach durchzechter Nacht mit whiskyschwerem Kopf kurz vor Schluss die entscheidende Idee ausspuckt ist hier freilich immer weniger Platz. Was freilich auch für die Agenturen durchaus Vorteile hat. Denn ein Blick auf das sympathische Lebenschaos Don Drapers macht klar, dass dieser Mann in wirklich rationalen und v.a. rationellen Strukturen schwer zu führen sein wird.

Bei der Content Marketing World kommen so letztlich Pathos, Rationalität und Pragmatismus zu einer zwar, zumal für deutsche Teilnehmer, ungewohnten Mischung zusammen, die sich aber letztlich als tragfähig und zukunftsfähig erweist. Kreativität dort, wo sie im Sinne des Kunden gut angelegt ist. Analyse, Planung und standardisierte Struktur wiederum dort, wo sie ebenfalls im Sinne des Kunden größtmögliche Effekte und für die Agentur die bestmögliche Kostenstruktur zulässt.

Joe Pulizzi bindet als Anchorman diese Elemente glaubwürdig zusammen und formt sie zu einer Vision, die sich in der Gestalt der Content Marketing World daher zu weit mehr als einem „Branchentreff“ oder einer Informationsveranstaltung verdichten. Hier sind tatsächlich Leute am Werk, die zutiefst von dem überzeugt sind, was sie tun und dies gerade deshalb täglich erneut unbeugsam kritisch hinterfragen und durchleuchten. Es ist diese geglückte Mischung aus identitätsstiftendem Pathos und gesunder Skepsis, die die Content Marketing World so wertvoll macht. Dass schließlich am Ende der leibhaftige Mark Hamill (Luke Skywalker) auftritt (und zwar nicht, weil er zum Thema Content Marketing viel zu sagen hätte), wirkt dann schließlich sogar als konsequenter Abschluss dieses Konzepts.

Wie man als Agentur im Umgang mit den eigenen Mitarbeitern sowohl wie mit Kunden diesen Spagat schafft und durch eine ausgeklügelte Inszenierung in eine rundum überzeugende Form bringt, lässt sich hier nachvollziehen und lernen. Es lohnt sich deshalb für deutsche Agenturen, die weite Anreise nach Cleveland auf sich zu nehmen.      


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(bmw) 16.09.2016


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